Den Menschen (und dessen Bildung) im Zeitalter des Anthropozän zu betrachten und zu analysieren, kann wahrlich nicht umfassend in nur einem Themenschwerpunkt wie diesem geleistet werden, sondern verlangt vielmehr nach einem (allgemein)pädagogischen Arbeitsprogramm für die nächsten Jahrzehnte. Mit den hier versammelten Beiträgen zur Thematik »Bildung des Menschen im Anthropozän. Die Grenzen des Menschen neu erforschen – Einsätze Pädagogischer Anthropologie« soll dazu ein Anreiz gegeben und ein Angebot gemacht werden.
Mit dem Begriff des Anthropozäns, den der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen und der Biologe Eugene Stoermer in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends geprägt und fortan in die Diskussionen rund um eine neue geologische Erdepoche und den vom Menschen gemachten Wandel eingebracht haben, steht die Trias von Natur-Kultur-Technik (erneut) auf den Forschungsagenden beinahe aller Wissenschaften und so auch der Erziehungswissenschaft. Wann der Beginn des Anthropozäns zu datieren ist, wird bislang kontrovers diskutiert, und ist vor allem davon abhängig, welche menschengemachten Entwicklungen und welche (u.a. technologische) Beschleunigungen und (gesellschaftliche) Dynamiken man in das Zentrum der Debatten stellt. In ihnen kommt dem Menschen einer der wichtigsten (dabei durchaus dialektisch und auch höchst kritisch zu betrachtenden) Einflussfaktoren für die vielfältigen Prozesse auf der Erde zu. Dabei ändern sich vor allem auch die Blickweisen hinsichtlich Natur vs. Kultur, und das vormals dualistische Narrativ wird hinsichtlich zunehmender Entgrenzungen erneut befragt. Auch die Sphären von Natur, Kultur, Gesellschaft und Technik werden neu vermessen.
Für eine pädagogisch-anthropologische Perspektive mögen vor allem die Neujustierungen des Menschen als Akteur und Verursacher jener Entwicklungen und ein daraus sich ableitendes menschlich verantwortliches Handeln im Kontext von höchst heterogenen und globalen Weltverhältnissen aufschlussreich sein. Dabei scheint es aus einer kritischen Haltung heraus unerlässlich zu sein, den bei den Anthropozän-Debatten virulenten und höchst machtvollen Anthropozentrismus selbst mitzudenken und unter den postmodernen Entwicklungen mitzureflektieren.
In seinem Beitrag »Grenzen und Entgrenzungen im Anthropozän« analysiert Christoph Wulf die globalen Durchdringungen in gesellschaftliche und kulturelle Bereiche, die das Menschen- und Weltbild des Anthropzäns mit sich bringt, um von hier aus ein Verständnis von Bildung im Anthropozän zu entfalten.
Nathanaël Wallenhorst fragt in »What does the Anthropocene hold for citizenship?« nach den Möglichkeiten einer dem Wandel angemessenen politischen Bildung und entwickelt dafür ein Modell von Staatsbürgerschaft vermittelt durch Bildung.
In »Die Grenzen der Transformation zur Nachhaltigkeit. Pädagogisch- anthropologische Perspektiven im Anthropozän« beleuchten Nino Ferrin und Ingrid Kellermann kritisch die im Anthropozän wirkmächtigen Bilder und Narrative einer vielseits geforderten ›nachhaltigen Bildung‹.
Andreas Weich untersucht in seinem Beitrag »Bildungsbezogene Medienkonstellationsanalyse. Konturen einer vermittelnden Herangehensweise angesichts der Grenze zwischen Subjekt und Medien« das (alte) Wechselverhältnis von Bildung und Medien erneut angesichts aktueller Transformationen und der damit korrelierenden (postmodernen) Selbst- und Weltverhältnisse.
In seinem Artikel »Digitale Sympoiesis und kulturelle Resilienz« analysiert Benjamin Jörissen aus der Perspektive einer kultur- und medienpädagogischen Praxis »Alternative Perspektiven auf Digitalisierung im Anthropozän«.
Johannes Bilstein macht mit seinem kulturhistorisch gesättigten Beitrag auf die »Grenzen der Kompetenz« aufmerksam und analysiert, aus einer anthropologischen Perspektive heraus, den Menschen als ›könnendes Lebewesen‹.
Im Allgemeinen Teil diskutiert Micha Brumlik im Anschluss an Sigmund Freud »Die Aktualität des Todestriebes« und beleuchtet dabei grell den Gewaltmythos; für erziehungswissenschaftliche Kontexte und darüber hinaus.
Kathrin Müller und Agnes Pfrang analysieren in ihrem Beitrag »Teilhabe- Lernen für Inklusion« den facettenreichen Begriff der Teilhabe, und übertragen diesen aus einer lerntheoretischen Perspektive auf den (soziopolitischen) Praxisbereich der Inklusion.
Die Sektionstagung Pädagogik der Görres-Gesellschaft beschäftigte sich in diesem Jahr mit dem zeitaktuellen Thema der Optimierung. Der Tagungsbericht von Rita Molzberger, Michael Obermaier und Erik Ode kann einen Einblick in die umfassende Thematik liefern.
Die Rezensionen geben vertiefte Einblicke in wissenschaftsgeschichtliche und bildungstheoretische Veröffentlichungen und laden zum eigenen Nach- und Weiterdenken ein.
Die Schriftleiterin bedankt sich bei allen Autor_innen und den Begutachter_innen der eingegangenen Beiträge. Ein besonderer Dank gilt den Salzburger Mitarbeiter_innen Theresa Lechner und Matthias Steffel für die redaktionelle Gestaltung des Heftes.
Sabine Seichter, Salzburg